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Todesgruß

 

 

 

         

"Endlich griff sie mit ihrer Rechten nach dem Messer und tat einen resoluten Schnitt. Den Schmerz spürte sie kaum. Es pochte am Handgelenk und sie beobachtete fasziniert, wie das Blut sprudelte und an den Fingern hinabfloss ..."

 

Kriminalroman

407 Seiten/ 12 x 20 cm / Paperback
Erscheinungsdatum: 6. Juli 2016
ISBN 978-3-8392-1949-2
 
 
Klappentext: Ein brutaler Mord erschüttert die westfälische Kleinstadt Unna während der alljährlichen Altstadtkirmes. Eine Zahnärztin wird erdrosselt im Stadtpark aufgefunden. Um ihren Hals hängt ein Lebkuchenherz mit der Aufschrift »Ein letzter Gruß, G.«. Kommissarin Maike Graf und ihr Kollege Max Teubner nehmen die Ermittlungen auf und stoßen schon bald auf eine heiße Spur, als ein weiterer Mord geschieht. Erneut trägt das Opfer ein Lebkuchenherz, und es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis der Mörder wieder zuschlägt …
 
Leseprobe: PROLOG, Sonntag, 10. Juni
 
Trotz des warmen Sommertages stand sie am geschlossenen Fenster. Als wolle sie das fröhliche Vogelgezwitscher fernhalten, das immer noch dumpf zu ihr drang. Frohsinn passte nicht in ihr Leben. Sie rieb sich die dünnen Arme, an denen sich feine blonde Härchen aufstellten. Durch blank geputzte Scheiben sah sie in einen azurblauen Himmel, an dem sich vereinzelt Schäfchenwolken zeigten. Eine davon hatte die Form eines Herzens.
 
Ihre Gedanken schweiften wehmütig zu Benny. Tränen traten in ihre Augen, als ihr Blick zur Kinderschaukel und zum Sandkasten in ihrem verwilderten Garten wanderte. Einst geschaffen für eine Familie mit lachenden Kindern. Und wieder traf sie mit einer Wucht die Gewissheit, dass in ihrem Garten keine Kinder mehr lachen würden. Die glückliche Familie von damals gab es nicht mehr. Sie war zerbrochen. Sie wurde von einem Tag auf den anderen zerstört. Heute dominierte Rost das Gestänge der Schaukel, die morsche Sandkiste diente nur noch streunenden Katzen als Toilette und am Gartenhaus blätterte Farbe ab. Und sie selbst? Was war aus der hübschen, lebensfrohen Frau geworden? Wo war die engagierte Grundschullehrerin auf der Strecke geblieben?
 
Einsamkeit und Depression bestimmten ihren Tagesablauf. Sie lebte in der Vergangenheit. Sie zehrte von der Vergangenheit. Sie klammerte ihre Gedanken an die Vergangenheit und funktionierte nur noch wie ein Roboter. Das Lachen verging, als Benjamin starb. Ihr kleiner, süßer Benny. Ihr ein und alles. Mit seinen vier Jahren wurde er aus dem Leben gerissen. Sie stand daneben, zur Untätigkeit verdammt. Oder hätte sie das Unglück verhindern können? Da waren sie wieder: die quälenden Gedanken. Seit Jahren. Jeden Monat, jeden Tag, jede Stunde. Sie schloss die Augen und rieb sich die Stirn. Benny. Sie konnte seinen Tod nicht verwinden. Auch nicht nach so langer Zeit. Niemals.
 
Heute wäre ihr Junge 18 Jahre alt geworden. Volljährig. Ein junger Mann. Vielleicht mitten im Abitur. Sicher gäbe es eine große Party mit vielen Freunden. Lächelnd blickte sie auf die Schokoladentorte, die sie bereits in der Früh gebacken hatte. 18 Kerzen brannten langsam herunter, wobei das Wachs zerfloss und sich in die Schokoladenglasur senkte. Sie seufzte und wendete den Blick ab. Die Bodendielen unter dem blau gemusterten Teppichboden knarrten, als sie auf das Kinderbett zuging und sanft über den frischen Bezug mit den aufgedruckten Rennwagen strich. Sie hob den Kopf und lächelte Benny an, der ihr von einem gerahmten DIN-A3-Porträt zuwinkte, das sie gestern noch rechtzeitig zu seinem Geburtstag vom Rahmengeschäft abholte. Er war ihr so nah wie lange nicht mehr.
 
Eine Weile stand sie so, dann wendete sie fast widerwillig den Blick ab, pustete die Kerzen aus und trat aus dem Kinderzimmer. Sie schloss leise die Tür, als wolle sie vermeiden, ihr schlafendes Kind zu wecken. Dann ging sie über den Flur zum Schlafzimmer und öffnete den Kleiderschrank. Sie zog ein ärmelloses Spitzennachthemd heraus und entkleidete sich, obwohl es erst drei Uhr am Nachmittag war. Das Nachtkleid umspielte sanft und kühl ihren mageren Körper. Sie spürte eine gewisse Vorfreude, als sie sich ins Bett legte, und die Decke bis zum Hals zog. Ihr Entschluss stand fest. Kein Aufschub mehr, kein Entkommen. Endlich Erlösung. Ihr schmales, blasses Gesicht hob sich kaum vom weißen Kissen ab.
 
»Sie werden es verstehen«, murmelte sie und meinte damit die wenigen Menschen, die ihr noch nahestanden, die sich verpflichtet fühlten, sich ab und zu kümmerten. Die freundlich lächelten, sich dennoch überwinden mussten, dieses Haus zu betreten. Ja. Natürlich hatte sie bemerkt, dass sie zu einer Last geworden war. Langsam drehte sie sich zur Seite und griff nach dem Schälmesser, das sie bereits am frühen Morgen aus dem Messerblock genommen und auf den Nachttisch gelegt hatte. Eine Weile drehte sie es in der Hand, beobachtete, wie die Klinge das Sonnenlicht an die Wand warf. Dann legte sie das Messer noch einmal zurück und blickte auf den Block Briefpapier, der auf dem Nachttisch wartete. Sie richtete sich auf, griff nach dem gravierten Füllfederhalter und schraubte die Kappe ab. Sie zog die Beine an und nutzte die Oberschenkel als Schreibunterlage.
 
»Was soll ich schreiben?«, flüsterte sie. »Sie wissen es doch. Sie wissen, warum. Alle wissen, warum.« Dennoch schrieb sie. Der Stift flog bald übers Papier und suchte nach Erklärung, bat um Verzeihung und Verständnis. Sie unterzeichnete mit dem Vornamen, riss das voll beschriebene Blatt heraus und faltete es. Sie schob den Block beiseite, verschloss den Füller und legte ihn zurück. Tränen rollten an ihren Wangen herab. Eine endlose Leere erfüllte sie. Endlich griff sie mit ihrer Rechten nach dem Messer und tat einen resoluten Schnitt. Den Schmerz spürte sie kaum. Es pochte am Handgelenk und sie beobachtete fasziniert, wie das Blut sprudelte und an den Fingern hinabfloss.
 
Einer plötzlichen Eingebung folgend, griff sie noch einmal nach dem Briefpapier. Ihre Bewegung war fahrig, der Füller fiel zu Boden, rollte über das glatte Laminat unter das Bett. Mit Mühe riss sie ein leeres Blatt aus dem Block. Sie lächelte, tunkte ihren Finger in ihr Blut und schrieb mit letzter Kraft. Schließlich ließ sie sich müde zurückfallen und schloss die Augen. Sie sah Benny. Er stand im Licht am Ende des Tunnels. Winkte er ihr nicht zu? Ein Lächeln ließ ihr Gesicht ein letztes Mal leuchten. Die eisige Kälte aus ihren Knochen verschwand. Eine wohlige Wärme umfing sie. Bevor die Müdigkeit sie übermannte, dachte sie noch, wann und von wem sie wohl gefunden werden würde.
 
 

 

 

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